Bionik und Design – Wirkung versus Werkzeug

erschienen in »Bionik & Design, Kapieren undRaffinieren vs. Kopieren und Frisieren -ein experimentelles kooperationsprojekt zwischen UdK Berlin und TU-Berlin«, 2008

In der Natur erscheinen die Gestalt gebenden Prozesse als scheinbar absichtsloses Erstreben eines Optimums. Das Individuum überlebt oder stirbt als Vehikel einer Evolution denn nicht das Individuum, sondern seine Art passt sich an. In der Kultur sind Gestalt gebende Prozesse höchst absichtsvoll und geschehen nicht immer im Rahmen einer Verbesserung. In diesem Zusammenhang erinnert die Natur das Design daran, dem Druck notwendiger Optimierungen nicht durch Variantenbildungen des Bestehenden auszuweichen, sondern neugeschöpfte Lösungen anzubieten.

Die Natur belohnt den Bestangepassten, Stärkeren, den Geschickteren, den im Sinne einer gerade vorherrschenden Situation Überlegeneren. So nimmt es nicht Wunder, wenn die erfolgreich überlebende Natur als Anregung dient, dass eine große Zahl der bionischen Entwicklungen auch militärische Assoziationen auslöst. Diese Geburtswehen einer zivilen Disziplin kennt auch das heutige Industriedesign, denn es sind neben den Gebrauchsgüterentwürfen von Peter Behrens auch unwesentlich später die normierten, industriell produzierten Zutaten des ersten Weltkriegs, die ebenfalls den Beginn eines sachlichen Designs darstellen. Eines der ersten Produkte, das gemäß Anspruch und mit Aufwand funktional gestaltet, ergonomisch geformt, fachübergreifend entwickelt und großseriell produziert wurde, ist der Stahlhelm. Daher lautet ein Auftrag des Designs und der Bionik: die schnellstmögliche Zivilisierung von Erkenntnissen aus der Natur.

Bionik und Design begegnen sich in der konzeptionierten Form. Form ist die Konsequenz eines jedweden Inputs, sei es die Evolution oder eine höchst artifizielle Absicht. Die Bionik sieht die Aufgabe, das Konzept einer vorhandenen Form zu verstehen, um dieses Konzept zu nutzen. Demgegenüber erarbeitet der Designer erst das Konzept, um daraufhin die Form zu geben. Die Schnittmenge wird offensichtlich. Die Natur bietet und bereichert Konzeptionierungen und schürt nebenbei den Verdacht, dass viel oder alles anders sein könnte. Das energiesparende Optimierungspotential durch ein besseres Verständnis natürlicher Vorgänge kann nicht oder nur sehr kaltschnäuzig übergangen werden. Eine gemäß Strömungswiderstand, Festigkeit oder Gewichtsersparnis als optimal erkannte natürliche Metaform ist eine Herausforderung für das Design und wird sich zu den bekannten Dogmen gesellen, an denen sich wahre Kreativität reiben muss.

Kultur – die Bewältigung der Welt – wird durch Werkzeuge erschaffen. Die Softwarekomponente dieses Werkzeugbegriffs entwickelte sich vom Ritual bis zum heutigen Gesetz – die Hardware von der Keule zur Maschine. Der Designer informiert die Maschine und diese wiederum das Material, das Halbzeug oder das Werkzeug. Diese Denkweise hat naturgemäß dort einen blinden Fleck, wo es mit Unproduziertem, weil Gewachsenem konfrontiert wird. Natur lässt Form von innen entstehen. Die direkte Übersetzung von DNA-Information in funktionierende und formbildende Einheiten hat keine Entsprechung in den bekannten Fertigungsstrategien, die sich üblicherweise von außen an das zu Formende bewegen. Dem Argument des Fertigungstechnikers, solcherart Unproduziertes sei nicht zu (re-)produzieren sind entweder neue Fertigungsmöglichkeiten entgegenzusetzen oder eine Bionik, die wirklich das von der gewachsenen Form gelöste Konzept zum Inhalt hat. Dieses Konzept kann dann – wie jedes Konzept – produziert werden.

Kultur verlangt Formen, die Vertrauen wecken, Eitelkeiten befriedigen, Ängste beschwichtigen, Schwächen kompensieren, Stärke verleihen, Rituale ermöglichen, kurzum Formen, die das Menschsein verstehen. Bionik und Design erkennen sich als wechselseitige Herausforderer im Geiste einer Optimierung, die auf dem Verständnis von zwei Welten beruht. Im Gegensatz zu virtuellen Einflüssen auf das Produktdesign stellt die Bionik einen Einfluß aus der dinglichen Welt dar. Das Gegenüberstellen von physisch vorhandenen Alternativen aus Natur und Kultur hat seine eigene Attraktion. Viele Naturphänomene entlarven Lösungen des Designers oder Ingenieurs als Bastelei. Es ist die Fähigkeit von Formen der Natur, jedem Kontakt mit der Umgebung, sei es Reibung, Kraft oder Temperatur, den (zer-)störenden Stachel zu nehmen oder gar zu nutzen. Es ist diese stille Bewältigung vieldimensionaler Anforderungen, die den zum Werkzeugmachen Verurteilten herausfordert.