Menschenverstärker

erschienen im Ausstellungskatalog »die Idee, das Ding, das Bild, die Rede« / Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Forum Gestaltung, Magdeburg, 5.11.2010 – 21.1.2011 / S. 29–32

Ursprünglich galt als Produkt, was eine sichtbare Oberfläche hatte und die fühlbare Dreidimensionalität einer „verwirklichten“ Idee. Diese Idee scheint sich nun vom Produkt zu emanzipieren. Heute heißen auch die Angebote einer Versicherung oder einer Bank „Produkt“, obwohl das einzig Dreidimensionale, das einzig „Fassbare“, das unterzeichnete Papier in einer Mappe ist, das den jeweiligen Produkterwerb besiegelt. Im Falle eines virtuellen Vertragsabschlusses entfällt selbst dieses. Einer Vielzahl von traditionellen, auf unseren Körper und auf die uns umgebenden Dinge bezogenen Worten und „Hand“-lungen wird somit die Grundlage entzogen. Nicht mehr „Hand drauf!“, nichts mehr „in der Hand“. Was uns zunächst bleibt und was die dingliche und die virtuelle Definition des Produkts vereint, ist die Art des Produkterwerbs durch Handel und die Tatsache, dass wir jedes Produkt nach seinem Gewinn für unser Leben abschätzen. Es ist scheinbar egal geworden, ob unser Leben durch die Idee in Form eines Konzeptvorschlages verändert wird oder durch das Bild in Form einer virtuellen Applikation oder durch die Rede als gesprochenes Wort einer kostenpflichtigen Hotline oder durch das dreidimensionale – physisch vorhandene – Ding. Es ist lediglich die Konsequenz für unser Leben, die uns interessiert. Heutige Unternehmen reagieren darauf, indem sie gleichermaßen Hardware, Software, Inhalte, Lifestyles und Wertesysteme anbieten.

Diese im wahrsten Sinn des Wortes nicht zu begreifende Erscheinung des Produkts ist jedoch nur scheinbar beliebig. Auch das virtuelle Produkt korreliert oder kollidiert mit unserem zweifelsfrei auch durch den Körper erworbenem Verständnis von der Welt. In diesem Zusammenhang betreibt die Unterhaltungsindustrie einen hohen Erziehungsaufwand bezüglich der undinglichen Virtualität, um z.B. das illegale Raubkopieren von Filmen oder Musik nicht nur zu verhindern, sondern um zunächst darüber aufzuklären, dass das Entwenden virtueller Produkte überhaupt als Diebstahl zu verstehen ist. Der Diebstahl eines physischen Gegenstandes bedarf einer derartigen Etablierung von Unrechtsbewusstsein üblicherweise nicht. Man lernt bereits als Kind in der Sandkiste, dass das „Stehlen“ von Produkten wie Schaufel und Eimer Ärger nach sich zieht und das Bestohlenwerden traurig oder wütend macht. Demgegenüber toleriert unser Gewissen illegales Verhalten leichter, wenn es sich gegen Produkte einer virtuellen Welt richtet. Somit scheinen die Grenzen der körperlichen Wahrnehmung in diesem Fall parallel zu den Grenzen der moralischen Wahrnehmung zu verlaufen. Es fällt uns leichter, ein Unternehmen durch einen Mausklick abzuwickeln, statt jeden betroffenen Mitarbeitern im persönlichen Vieraugengespräch zu entlassen. Im physischen Gegenüber, sei es Mensch oder Ding, fühlen wir die Entsprechung zu unserem eigenen Körper, der unser ureigentlicher Maßstab der Welt ist.

Wie entsteht dieser Maßstab, den unser Körper darstellt? Versuchen wir uns zu erinnern. Zuerst liegen wir auf dem Rücken, zum Beispiel in einer Wiege. Wir sind geblendet und können noch nicht richtig sehen. Wir fühlen andere Körper und Wärme. Wir schauen nach oben zu all den Gesichtern. Dann bewegen sich unsere Arme den Gesichtern entgegen. Die Gesichter verändern ihren Ausdruck. Jemand hält unseren noch wackeligen Kopf, bis wir kräftig genug sind, ihn selbst zu tragen. Dann strampeln oder rollen wir und fangen an zu krabbeln. Wir sehen dauernd Leute um uns herum stehen, aber das betrifft uns zunächst nicht. Später versuchen wir, es ihnen gleichzutun und stehen auf. Fortan laufen wir umher und entdecken unsere Umwelt. Gespräche werden lauter, wenn wir näher kommen. (Aha, lauter ist näher?) Wir berühren Sachen und fallen immer wieder hin, fallen immer nach unten. Jemand hilft uns wieder auf die Beine oder sagt: „Steh auf!“. Durch das Aufstehen werden wir größer. Erst größer als eine Katze, dann größer als ein Hund, dann größer als ein Mensch der sitzt, schließlich größer als unsere Eltern, wenn sie stehen. Wir kommen vorerst noch nicht an die Süßigkeiten oder die interessanten Sachen, die da oben stehen. Wir entdecken – erst zufällig und dann vorsätzlich forschend – den Sinn von Dingen, die uns noch größer machen – einen Stuhl vielleicht – bevor wir wissen, wie ein Stuhl heißt oder dass ein Stuhl überhaupt heißt. Er passt gerade zu unserer Absicht bezüglich der Süßigkeiten. Das Ding erweitert unsere Möglichkeiten. Immer wieder tut es weh, wenn irgendein Ding oder wir selbst hinfallen. Unser Bewusstsein für die Körper der Welt wächst und im Gegenzug lassen die Körper unser Selbstbewusstsein wachsen. Das Erfahren der Dinge wird abstrakter. Wir wissen nun, dass auch andere hinfallen, kennen selbst Schmerz und verstehen dadurch den Schmerz der Anderen. Später erkennen wir auch Bedienelemente. Da sind zum Beispiel Pfeile neben einer Fahrstuhltür, die zeigen nach oben Richtung Himmel und diesen oberen Pfeil, der nach oben zeigt, den drücken wir, wenn wir nach oben wollen. Viel später verstehen wir das „Nach-Oben-Kommen“ auch als Metapher für eine berufliche Karriere. Wir lernen Himmel und Hölle kennen und „oben“ bekommt eine weitere von vielen Bedeutungen, deren Ursprung unser Körper einst entdeckt hat, aber deren Sinn sich nun von unserem Körper gelöst hat.

Produkte sind Menschenverstärker. Produkte erweitern die Möglichkeiten des nackten, schwachen, weichen und verletzlichen Menschen. Wir haben kein Fell? Ergo entwerfen wir Kleidung! Keine Reißzähne? Also Stein – Keule – Waffen! Keine Krallen? Faustkeil – Messer! Weiche Oberfläche? Schuhe – Schutz und Rüstung! Es ist zu dunkel? Feuer – Licht – Nachtsicht! Zu langsam? Tierzähmung – Reiten – Auto! Ein Körperteil versagt? Körperunterstützung – Orthesen! Ein Körperteil fehlt? Ersatz – Prothesen! Unsere Hände können zu wenig Wasser tragen? Muschel – Schale und Becher! Unsere Stimmen sind zu leise für weite Entfernungen? Hände formen einen Trichter – Megaphon – Telefon! Zu wenig Kraft? Hebel – Maschine! Für jedes Manko entdecken oder entwerfen wir das ausgleichende Produkt. Wir könnten diese Ausgleiche im weitesten Sinne als Werkzeug beschreiben. Das Werkzeug ist Teil einer Aktion oder das ermöglichende Ding für eine Tat, die vom selbstbestimmten Menschen ausgeführt wird. Wir haben eine Absicht und führen sie aus, indem wir Werkzeuge, Produkte oder Dinge einsetzen.

Allerdings versagt dieser Werkzeugbegriff, wenn er mit den Anforderungen des fremdbestimmten Menschen konfrontiert wird, der wir ebenfalls sind. So eröffnet sich neben dem Werkzeugbegriff die zweite große Quelle der Produktgestaltung – der Fetisch. Gemäß seiner Definition kann der Fetisch Kräfte abstrahlen oder Kräfte in einem Produkt sammeln. Er ist ein Brennglas, dessen Brennpunkt Kräfte aus beiden Richtungen fokussieren kann. Ergo kann der Fetisch bündelnder Empfänger oder strahlender Sender sein, das heißt der Fetisch ist Objekt der gebenden und empfangenden Begierde. Der Fetisch bestimmt uns. Begleitet das Werkzeug uns bei unserer selbstbestimmten Tat, so fordert der Fetisch das fremdbestimmte Ritual: das nach Regeln bestimmte Aufstellen oder Anlegen des Dings, das regelmäßige Beachten, das Pflegen, die fest terminierte örtliche und zeitliche Widmung, das Beachten von überlieferten Umgangsregeln. Ein ungepflegter Fetisch kann nicht wirken.

Der Übergang vom dinglichen Fetisch zum Bild ist mitunter fließend. So wird der Bilderstürmer vielleicht durch zwei Motive angetrieben, von denen er womöglich selbst nicht immer weiß, welches das ausschlaggebende ist. Zum Einen soll das Bild als Stellvertreter (des Gegners?) verschwinden – sei es zwei- oder dreidimensional. Zum Anderen gesteht der Bilderstürmer dem Bild selbst Kräfte zu, deren Wirkungen er durch dessen Zerstörung beenden will. Wir beobachten das bei Bilderverboten, dem Sturz von Denkmälern oder dem ritualisierten Verbrennen von Flaggen. Indem wir dem Bild Kräfte unterstellen, oder den Verdacht in uns zulassen, dass ihm eine Magie innewohnt, wird es für uns auch zum Fetisch.

Beide Quellen der Produktgestaltung, das Werkzeug und der Fetisch, basieren auf einem Weltverständnis, das auch über unseren Körper entsteht. Das beschriebene kindliche Hinfallen und Aufstehen hat uns weit gebracht. Durch die körperliche Begegnung und dem mit ihr einhergehenden Lernen verwandelten sich die einst sperrigen Dinge in verstärkende – menschenverstärkende – Werkzeuge. Die Virtualisierung kann die physische Dinghaftigkeit in diesem Zusammenhang nicht ersetzen, denn Virtualität basiert auf der dinglichen Weltwahrnehmung. Nur der in und an seiner Körperlichkeit gewachsene Mensch kann Virtualität über das Zuschauen hinaus teilhabend verstehen. So behält das Ding seinen Auftrag, eine Quelle für unsere Körper- und Selbsterfahrung zu sein, für unsere Bilder und ein Reiz für unsere Ideen.

Die Menschenverstärker bescheren uns neben ihren Wirkungen auch Fragen. Müssen wir noch laufen, wenn wir Fahrzeuge haben? Müssen wir noch unsere Angst vor der Dunkelheit überwinden, wenn wir das Licht beherrschen? Diese Fragen stellen einen Teil unserer Aufgabe dar. Es liegt in unserer Entscheidung, was und ob wir etwas wir verstärken wollen. Unsere jeweilige Antwort entscheidet darüber, welche Stärken der Mensch durch das Ding erhält oder selbst entwickeln muss.